Der Untergang der Schwarzelfen

     Daria, die Königin der Schwarzelfen, reichte Rhoderick den verfluchten Bolzen. Er war schwarz und roch nach ranzigem Öl. Die Königin ließ ihn über ihrer ausgestreckten Hand schweben. Rhoderick war froh, dass er dicke Leder-handschuhe trug. Als er den Bolzen in den Schaft seiner Armbrust legte, fühlte er einen kurzen Anflug von Grauen aufsteigen. Am liebsten wollte er dieses Ding sofort weg-werfen, doch er hatte gelernt, seine Abscheu zu verbergen.

     „Klettere auf den höchsten Turm, Mensch.“  Sie sprach das Wort Mensch stets mit der gleichen Verach-tung aus, wie das Wort Hochelf. „Der Bolzen wird durch keinerlei Magie aufgehalten. Er ist für Liofar bestimmt. Wenn er über die äußere Mauer kommt, töte ihn.“

     Rhoderick sah zu Boden. Die Königin war beinahe so groß wie er. Schwarze Haarsträhnen umrahmten ihren Kopf wie ein dunkler Heiligenschein. Das Licht um ihren Körper wurde gedämpft, als saugte sie es auf. Daria hatte ihre magische Kraft vervielfacht, um einen besonders anstrengenden Zauber zu bewirken. Ein gefährliches Spiel. Oft genug hatte sie dann die Kontrolle über ihre Magie verloren. Mit tödlichen Folgen für ihre Umgebung.

     „Zweifelst du daran, dass wir siegen werden, Mensch?“, ihre Stimme klang spöttisch. Rhoderick wagte noch immer nicht, aufzusehen.
„Niemand beherrscht die Kunst der Vorhersage besser als ich“, setzte Daria fort. „Ich bin sogar soweit gegangen, meinen eigenen Tod vorauszusehen. Ich war alt und schwach. Und ich stand auf den verfallenen Türmen dieser Feste. Sieh mich an, Mensch: Bin ich alt? Bin ich schwach?“ Sie lächelte ihn an und Rhoderick hauchte ein „Ihr seid wunderschön, Majestät.“
„Willst du wissen, wie lange du noch leben wirst?“ Rhode-rick nickte, ohne es zu wollen. Daria nahm seine Hand. Ihre eiskalten Finger fuhren kurz über seinen Ballen, ver-harrten dann in seiner Handfläche. Rhoderick biss die Zähne zusammen. Sein Blut fühlte sich gefroren an. Eine kurze Unachtsamkeit ihrerseits und die aufgestaute Magie würde sich in ihn entladen.
„Kurz“, stieß sie hervor. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Kurz für einen Elf, aber recht lange für einen Menschen.“
Mit einem Wink entließ sie ihn. Seine Schritte hallten laut auf dem schwarzen Marmor, während er eilig nach draußen lief. Im großen Innenhof hasteten Krieger, Magier und Untote auf ihre Posten. Kaum jemand würdigte den einzi-gen Menschen in der Feste eines Blicks.

     Liofar, König der Hochelfen ritt neben Echelon, dem König der Grünelfen. Vom grasbewachsenen Hügel sahen sie auf die drei Heere, die wie drohende Speerspitzen auf die Feste zeigten.
„Wenn ich nur sicher wäre, dass uns die Rotelfen nicht in den Rücken fallen“, murmelte Echelon. „Theothan müsste hier sein, bei uns, nicht weit weg in seiner Burg.“
„Er hat Angst. Alle haben Angst vor Daria“, erwiderte Liofar.

     Raitsungars Türme streckten sich wie giftige Stacheln in den Himmel. Manche waren höher als Hundert Mannlängen.
Echelon griff nach seinem schweren Zauberstab, der weit aus der Satteltasche ragte. „Soll Theothan sich nur fürchten. Hauptsache, seine Feuermagier vernichten die Skelett-schützen.“
Liofar musterte die Feste mit ernstem Blick. Sie war größer als er gedacht hatte. Echelon folgte schweigend seinem Blick.
„Morgen werden sie alle tot sein“, begann Liofar nach einiger Zeit. „Sie waren ein Teil von uns.“
„Sie oder wir. So habe ich es in der Zukunft gesehen. Daria hätte das Tor zur Dämonenwelt geöffnet, wenn wir nicht zuerst angegriffen hätten.“
Liofar erwiderte nichts, sah nur weiter mit düsterer Miene auf die Burg.
„Daria hat noch eine kleine Tochter, Erlin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bis zum bitteren Ende in der Feste bleibt. Und dann könnte genau das geschehen, was du verhindern wolltest. Sie könnten jederzeit durch das Totenreich fliehen.“
„Nein!“, schrie Echelon. „Daria wird nicht fliehen. Das verbietet ihr Stolz. Und was Erlin betrifft: Sie wird sterben, genauso wie ihre Mutter. Ich habe einen Spion dort drinnen. Er wird dafür sorgen, dass niemand entkommt.“
„Ein Spion?“, Liofar wandte sich heftig zu seinem Begleiter. „Dort gibt es nur Schwarzelfen. Wie hast du das geschafft? Daria kann doch in die Zukunft sehen.“
„Etwas zu sehen heißt nicht, es zu verstehen. Du konntest dich doch schon in der letzten Schlacht davon überzeugen, wie gut ich sie in die Irre führen kann. Und was den Spion betrifft: Er ist kein Schwarzelf.“

     Rhoderick stand alleine in einer kleinen Kammer, von der eine einzige Schießscharte den Blick auf die anrückenden Armeen der verbündeten Hoch-, Grün-, und Rotelfen ermöglichte. Bedächtig wie eine stetig steigende Wasserflut kamen sie näher.
Über ihm, auf der Plattform, hatten gerade die Skelettschützen Stellung bezogen. Rhoderick konnte es ertragen, wenn sie an ihm vorbei gingen, in ihren Augenhöhlen feuchte Erde und Gestank. Doch er würde nicht ruhig schießen können, wenn sie neben ihm standen. Und überdies waren die Skelettschützen das erste Ziel der Feuermagier der Rotelfen.

     Er beugte sich vor, um zu sehen, wie gut die innere Mauer besetzt war. Sein Turm bildete eine der vier Ecken. Unter ihm standen nur drei Schwarzelfen, die auf ihre langen Bögen gestützt leise miteinander schwatzten. Einer nahm seinen Helm mit der Dämonenfratze ab, dabei wurde sein graues Haar sichtbar. Niemand dort unten sollte diesen Tag überleben. Er war dafür bezahlt worden, seinen Teil dazu beizutragen. Rhoderick wollte den Gedanken vermei-den, doch wieder fragte er sich ob Echelon Wort halten würde. Elfen verachteten Menschen. Selbst Daria hatte ihn nur in ihrem Dienst behalten, weil er mit seiner Armbrust einen Kopf auf 200 Manneslängen treffen konnte. Und nicht aus Dankbarkeit, weil er ihrer Kundschafterin zur Flucht aus den Kerkern seiner Stadt verholfen hatte.

     Doch Daria sah in die Zukunft. Echelon hatte zwar immer wieder betont, dass er ihre Fähigkeiten im Bezug auf Rhodericks Verrat neutralisieren würde, doch Daria hatte Echelons Kriegsvorbereitungen vorausgesehen.
Wenn Daria Echelons Plan voraussah, wie sollte sie nichts von Rhodericks Verrat wissen?

     Rhoderick betrachtete den schwarzen Bolzen. Die starke Magie, die ihn einhüllte, machte ihn verschwommen. War er am Ende für ihn selbst gemacht? Daria hatte oft genug mit ihren Feinden Katz und Maus gespielt. Hatte sie die letzte Schlacht etwa mit Absicht verloren, nur um alle ihre Feinde hierher zu führen?
Hinter ihm klapperte jemand über die Stufen. Der leicht modrige Geruch eines Skelettsoldaten drang zu ihm. Rhoderick hielt den Atem an. Der Soldat blieb vor der Türe stehen. Etwas knackte, und dann setzte er seinen Weg fort nach oben. Der Geruch wurde langsam schwächer und Rhoderick konnte wieder atmen.
Von weitem hörte er ein Horn zum Angriff blasen. Er fass-te seine Armbrust und machte sich bereit.

     „Zieht die Truppen zurück. Euer Plan hat nicht funktioniert.“
„Nein“, entfuhr es Echelon. „Sie kämpfen wie die Teufel. Ich hätte das nicht…“
Er beschattete seine Augen, denn von Liofars Händen strömte weißes Licht, welches die verwundeten Krieger heilte, die in immer größerer Menge zurückströmten.
„Wir werden sie vor der Dunkelheit nicht besiegen können. Raitsungar wird noch einen Tag überleben.“
Echelon presste seine dünnen Lippen zusammen, während er durch einen Zauber alle Truppen zum Rückzug aufrief. Trotzig rief er einen Hornissenschwarm herbei und sandte ihn gegen die Feste. Die äußere Mauer wurde in Nebel aus Insekten, Feuer und beißenden Rauch gehüllt, um den Rückzug zu decken.
An einigen Stellen explodierten die Feuerbälle an der gleichen Stelle, an der die Insektenschwärme entstanden. Der Rückzug wurde immer chaotischer. Die Rotelfen rannten jetzt einfach um ihr Leben. Hinter ihnen erschienen Schwarzelfen, die mittels Magie von der Mauer gesprungen waren, und schossen ihnen in den Rücken.
Echelon ließ die berittene Reserve mit den Zentauren angreifen, um den Rückzug zu decken. Das Bild einer abscheulich lachenden Daria, die einen toten Grün- und Rotelfen nach dem anderen erweckte und gegen die eigenen Könige schickte, erschien ihn Echelons Kopf.
Er verscheuchte den Gedanken. Es war keine Vision, nur seine ganz persönliche Angst. Er trat einer Gruppe von Grünelfen entgegen, die einen verkohlten Leichnam in Liofars heilendes Licht tragen wollten.
„Begrabt ihn. Aber weit weg.“
„Unfähige Rotelfen. Der Schuldige wird das büßen“, dachte er und wandte sich wieder Liofar zu. Dieser stand erschöpft inmitten seiner schmutzigen Hauptleute, die ihm alle gleichzeitig Bericht erstatten wollten.
„Daria erschien und wir erblindeten!“
„Ich war schon auf der Mauer, als mich dieser Fluch traf. Meine Beine gaben nach, ich konnte mein Schwert nicht mehr halten und dann fiel ich!“
„Sie hat Dämonen aus der Hölle beschworen. Mit Zähnen, so lang wie Messer. Die Monster kamen direkt auf uns zu. Oh Gott!“
„Illusionen“, bellte Echelon.
„Wäret ihr an unserer Seite gestanden, hättet ihr nicht so geredet“, bellte der Hochelf zurück.
Liofar hob die Hände, um die aufgebrachten Rufe zum Schweigen zu bringen.
„Darias Magie ist stark. Sie nimmt auf niemanden Rücksicht. Morgen werden Echelon und ich an eurer Spitze die Mauern stürmen. Und dann wird es für Daria keine Gnade mehr geben.“

     Rhoderick versuchte die Bilder der Schlacht zu analysieren. Die einzelnen Elfenstämme waren es noch nicht gewohnt, zusammen zu arbeiten. Wenn sie ihre Abstimmung verbesserten, wären sie eine tödliche Allianz. Die Rotelfen mit Feuer. Die Grünelfen mit ihren gezähmten Bestien und den Weissage-Zauberern und dahinter die Hochelfen, die alle Verwundeten heilten.
Den verletzten Schwarzelfen hingegen blieb nur die Möglichkeit, ihre geschwächte Lebenskraft durch die eines an-deren zu stärken. Bereitwillig opferten sich Alte und Kranke, um den Kriegern den letzten Rest ihrer Lebens-kraft zu übergeben. Rhoderick sah, wie sich dann die Nekromanten um die Körper kümmerten. Hier wurde nichts verschwendet.

     Daria erschien in seinem Blickfeld auf der Mauer. Sie sah zu ihm und deutete auf eine Stelle vor sich.
„Genau da wird Liofar morgen erscheinen“, flüsterte sie durch Magie direkt neben ihm.
Rhoderick hatte nicht gewusst, dass die Schlacht so lange dauern würde. Warum hatte sie ihn den ganzen Tag hier oben warten lassen? Seine Armbrust wäre eine mächtige Waffe gegen die Angreifer gewesen.
„Sie sieht nicht alles vorher“, dachte er noch einmal und rief sich Echelons letzte Worte in Erinnerung: „Befolge jeden ihrer Befehle. Auch wenn du glaubst, er würde uns schaden. Wir kümmern uns schon um Daria. Du musst nur Erlin erledigen. Das sollte nicht so schwer sein.“
„Hallo Rhoderick“.
Rhoderick ließ vor Schreck beinahe seine Armbrust fallen. Erlin stand hinter ihm. „Ich habe dir Armbrustbolzen gebracht. Mutter sagt, du würdest sie morgen brauchen.“
„Ich dachte eigentlich, ich müsste nur einen Bolzen abschießen aber irgendwie bin ich nicht dazu gekommen.“
Rhoderick kam sich dumm vor.
Erlins dunkelblaue Augen starrten ihn an. Das schwarze Haar und das blasse Gesicht verstärkten den Eindruck, als leuchteten sie von innen.
„Ich möchte hier bleiben. Ich habe geträumt, du würdest mich in das Land der Menschen mitnehmen.“

     Rhoderick legte die Armbrust neben sich. Allmählich begann es dunkel zu werden. Er wünschte sich eine Kerze. Im Gegensatz zu ihm sahen die Schwarzelfen im Dunklen genauso gut wie am Tag.
„Ich weiß nicht, ob du dich dort wohl fühlen würdest. Und morgen werden wir eure Feinde in die Flucht schlagen. Dann gibt es keinen Grund mehr, von hier weg zu gehen.“
„Papa sagt auch, dass wir sie besiegen werden. Aber ich habe sie heute gezählt. Da draußen sind 33418 Feinde. Und hier gibt es nur mehr 2844 Schwarzelfen und 2514 Untote.“
Rhoderick wusste nicht, was er erwidern sollte.
„Ich kann auch in die Zukunft sehen. Nicht so gut wie Mama. Wir werden durch einen langen Tunnel gehen. Du wirst mich tragen und ich werde mich fürchten. Dann kommen wir zu den Menschen. Ich weiß nicht, wann es passieren wird. Mama will nicht, dass ich gegen die Hochelfen kämpfe.“

     In Rhoderick drehten sich die Gedanken. War das eine Falle? Wusste Daria über sein falsches Spiel Bescheid? Er sah das kleine Mädchen an. Sie würde einmal eine sehr hübsche Frau werden. Die Magie der Elfen lag zum großen Teil in ihren Genen. Auch dieses Kind würde eines Tages Seelen vom Totenreich zurückholen und zwingen einen verfallenden Körper zu bewegen.

     Erlin hatte zwei Puppen aus ihrer Tasche geholt. Sie hob ihre Hand und wandte sich dann noch einmal zu Rhoderick. „Ich habe dir etwas zu essen und trinken mitgebracht.“
Sie reichte ihm einige harte Kekse und einen Apfel.
„Das ist lieb von dir.“ Er steckte einen Keks in den Mund.
„Magst du auch was?“
Erlin beachtete ihn nicht, sondern spielte mit ihren beiden Puppen, als wäre sie irgendein Mädchen in einer kleinen, gemütlichen Hütte, von Oma und Opa bewacht.
Sie erweckte die beiden Gestalten mit einem Marionettenzauber und ließ sie tollpatschig herumlaufen. Ihre Finger spielten dabei über den Köpfen der Puppen.
Rhoderick hatte den Zauber bei ihrer Mutter gesehen. Sie konnte das Gleiche, ohne die Finger zu Hilfe zu nehmen, mit anderen Elfen tun.
„Frau Rat, was sollen wir tun. Die Feste ist umzingelt“, sagte Erlin zu der schwarzhaarigen Puppe.
„Oh, meine gefürchtete Königin“, die Puppe verneigte sich hastig, fiel dabei auf die Knie.
„Ihr dürft nicht fallen. Das Gleichgewicht steht auf dem Spiel. Wenn die schwarzen Elfen nicht mehr sind, wird sich das Rad des Schicksals zu weit zu den Hochelfen wenden. Es wird kippen und alles wird zerstört.“
„Dann wollt ihr also, dass ich vor meinen Feinden fliehe?“, erwiderte Erlin mit der Stimme ihrer Mutter.
„Ja, meine Königin, zieht euch zurück. Baut eine neue Armee auf. Ihr werdet sie alle in Zombies verwandeln.“
„Und ihr, mein Gemahl, was denkt ihr?“, wandte sich Erlin nun zur zweiten Puppe, deren Haar etwas kürzer war.
„Niemand kann eurer Macht widerstehen. Bleibt hier und kämpft. Die Burggräben werden sich mit dem Blut eurer Feinde füllen. Wir sind Schwarzelfen. Wir fliehen nicht.“
„Mein starker Keheloth. Du hast Recht. Raitsungar wird nicht fallen. Lasse deine Höllenhunde los, tauche die Pfeile unserer Bogenschützen in tödliches Gift. Wir werden sie vernichten. Alle!“

     Die letzten Worte kreischte Erlin. Rhoderick konnte sich gut vorstellen, wie es in Wirklichkeit zugegangen war.
„Was ist dann passiert?“, flüsterte er.
Erlin ließ ihre Puppen fallen und kam auf ihn zu. Es war mittlerweile so dunkel, dass er den Ausdruck in ihrem Gesicht nicht mehr erkennen konnte.
„Sie hat eine Weile geschrien, alle haben schweigend zu Boden geblickt und sind dann eifrig aufgesprungen, um schnell ihre Befehle auszuführen.“
Erlin setzte sich zu ihm und musterte ihn.
„Welche Zauber kannst du noch?“, fragte Rhoderick.
„Ich lese gerade deine Aura.“
„Was siehst du darin?“
„Weiß nicht. Du bist ein Mensch. Bei euch ist alles anders. Ihr lebt zu kurz, darum prägen sich die Farben und Muster nicht richtig ein. Papa sagt, ihr wärt so wie Papagein. Ihr macht einfach nur nach, was ihr bei uns Elfen seht.“
„Und deine Mutter? Was meint die über uns Menschen?“
„Sie sagt, sie wird euch alle unterwerfen. Ihr würdet sonst zu hochmütig werden und alles kaputt machen mit eurem verfluchten Stahl. Außerdem seid ihr blind und taub gegen-über der Magie und würdet deshalb in eurer Unglück laufen.“
„Ich kann aber zaubern“, lachte Rhoderick. „Also sind wir nicht alle blind.“
„Zeig mir, was du kannst.“
Rhoderick nahm seinen Wasserbeutel und blies auf ihn.
Das Wasser gefror. Er hielt ihr den Beutel hin.
„Und was noch?“
„Ich kann Leben nehmen. Ein bisschen. Und mich damit heilen. Mehr kann ich leider nicht. Ich habe auch nicht viel geübt.“
„Du hast Angst“, sagte Erlin plötzlich.
„Natürlich habe ich Angst. Draußen warten die Hochelfen, um uns alle umzubringen.“
„Nein. Nicht so. Du hast vor etwas Angst, das hier ist.“
Rhoderick wurde heiß. Sie war so nahe, dass er die Armbrust nicht einsetzen konnte. Aber würde er in der Lage sein, ein Kind mit bloßen Händen umzubringen?
„Es ist dunkel. Draußen sind die Skelettschützen. Wir Menschen fürchten uns vor den Toten.“
Er spürte den Schweiß unter seiner Rüstung in sein Unter-hemd rinnen.
„Es muss dir nicht peinlich sein“, sagte sie schließlich. „Du bist ja nur ein Mensch. Ich mache dir Licht. Und den Untoten sage ich auch, dass sie nicht herein dürfen.“
Ihre zarten Hände schrieben undeutliche Muster und in der Mitte des Raumes erschien ein kleiner, blauer Lichtpunkt. Vor der Türe flammte kurz eine weiße Linie auf und verschwand.
„Ich bin müde. Darf ich mich zu dir kuscheln?“
Rhoderick nickte und kurz darauf war die Erlin neben ihm eingeschlafen. Er beobachtete ihre regelmäßigen Atemzüge. Ohne etwas dagegen tun zu können, rann eine Träne über seine Wange. 

     Koria war in seinen Erinnerungen wieder bei ihm. Er konnte es nicht länger verdrängen. Die geheimnisvolle Elfe von der anderen Seite der Welt. Er hätte sie bewachen müssen. Doch die Liebe hatte ihn getroffen wie einer von Darias Zauber. Sie war so schön gewesen. Die tätowierten schwarzen Ranken an ihren Wangen hatten ihre großen Augen und die roten Lippen noch stärker in den Vordergrund gerückt. Eine Kundschafterin, unendlich weit weg von ihrer Heimat. Er hatte ihr die Sprache der Menschen beigebracht und sie ihm die der Elfen. Auf dem langen Weg zurück in ihr Reich hatte Koria ihm ihre Magie gezeigt, die wegen der vielen Eisenstäbe im Gefängnis nicht funktioniert hatte.
Wie hell hatte sie gelacht, als er vor ihrem erweckten Skelett davon gelaufen war. Dabei war es nur zu ihrem Besten gewesen. Koria, mit ihrer zielstrebigen Art. Koria, die sich nie etwas hatte sagen lassen, die unbedingt wieder zurück musste - mit ihm, dem Verräter.
Und dann war alles so schnell gegangen. Sie war von einem der ersten Armbrustbolzen erwischt worden. Dann überall Schreie und Tote. Rhoderick war gezwungen gewesen, Menschen zu töten. Seine eigene Rasse. Und das für diese Rasse von Nekromanten.
Er schluchzte leise auf und schlief dann ein.

     Die Schlacht tobte schon seit Stunden. Immer wieder waren die Angreifer von den Mauern zurückgeworfen worden. Endlich erschien Liofar. Heilendes Licht neutralisierte die giftigen Pfeile, die auf ihn niederregneten. Mit ihm an der Spitze stürmten sie die äußere Mauer. Zombies und Skelette vergingen in Feuerblitzen. Die Schwarzelfen starben weniger spektakulär durch Pfeile und Schwerter.
Während Liofar mit stoischer Gelassenheit einen Zauber nach dem anderen sprach, wirkte Echelon hinter ihm fahrig, ja ängstlich.
Plötzlich traf etwas aus einem der Türme Liofar.
Der schwarze Bolzen durchschlug die Brust des Königs der Hochelfen. Der Bolzen flog weiter und zerriss mit einem scharfen Knall die Brust eines Leibwächters.
Liofar und sein Leuchten waren wie ausgeblasen. Nicht die kleinste Spur war noch zu sehen, und der Leibwächter hin-ter ihm zerfiel rasend schnell zu einem kleinen Staubhaufen, der langsam vom Wind über die Köpfe der An-greifer geweht wurde.

     Daria erschien auf der Mauer. Sie hob ihre Hände. Echelon sah, dass sie voller Blutegel waren. Schwarzer Rauch floss aus ihnen und erstickte die Angreifer. Mühelos schwebte Daria hoch und deutete auf Echelon. Selbst in ihrem Gesicht saugten Blutegel. Einer verdorrte, als sich ein blassgrüner Strahl aus ihrem Finger direkt auf Echelon zu-bewegte. Das war das Letzte, was der König der Grünelfen sah. Von der anderen Seite erschien Keheloth. Das blaue Licht seines Speers leuchtete heller als die Sonne. Mühelos erstach er einen Angreifer nach dem anderen.

     Rhoderick oben am Turm lud hastig seine Armbrust und sandte einen tödlichen Bolzen nach dem anderen in die Angreifer. Vor und auf der Mauer türmten sich die Leichen der Gefallenen. Rhoderick hatte alle Bolzen verschossen. Der Angriff löste sich in einer heillosen Flucht auf.
Da ertönte von der anderen Seite, dort wo er nicht hinsah, ein fürchterliches Geschrei.

     „Meine Visionen erfüllen sich immer. Wir mussten sterben. Genau an dieser Stelle. Und wir hätten es tatsächlich getan, wenn ich es nicht vorhergesehen hätte.“
Echelon triumphierte. Er trieb sein Pferd an, sodass er an der Spitze des Überraschungsangriffs auf die Westseite ritt. Ihre Doppelgänger hatten fast alle Schwarzelfen auf die Ostseite gelockt. Von den Mauern flogen ihnen nur wenige Pfeile entgegen.
Die Grünelfen ließen Brücken über den Burggraben wachsen. Echelon sprang vom Pferd und rannte, geschützt von seinen Leibwachen zur Mauer. Er rammte seinen Zauberstab tief in die Steine. Augenblicklich begann die Magie zu wirken. Überall sprossen Ranken, drangen in die feinen Ritzen zwischen die Steine und sprengten dann die Burgmauer. Seine Leibwächter zauberten einen dicken Schild aus Holz, der sich über sie legte, wie ein Kokon und sie vor der einstürzenden Mauer schützte. Mit einem gewaltigen Knall fiel ein Teil der Mauer nach innen. Während Echelon mühsam aus dem verschütteten Holzkokon nach hinten kroch, stürmten über ihm die Krieger der Hochelfen durch die Bresche. Ein Feuerball explodierte auf der inneren Mauer und tötete den letzten Skelettschützen. Echelon stürmte mit seiner Leibwache zu einem der Ecktürme der inneren Mauer. Wieder stieß er seinen Stab hinein. Zuerst geschah nichts, doch dann bebte die Erde. Zuerst sachte, doch dann immer heftiger. Die ganze Burg wackelte. Schweißperlen erschienen auf Echelons Stirn. Ein Turm neigte sich und fiel in Zeitlupe auf die Mauern mit den Verteidigern auf der Westseite. Dann prasselten von überall Steine herunter. Ein Leibwächter riss ihn mit sich, doch Echelon rappelte sich auf, um weiter an der Spitze des Angriffs zu stehen. Ein Stein traf ihn am Rücken, warf ihn nieder. Er konnte sich nicht bewegen, alles wurde dunkel. Mühsam versuchte er die Dunkelheit zu vertreiben, doch dann war Liofar bei ihm und seine Wunden heilten in we-nigen Augenblicken. Die Lage der Verteidiger war aus-sichtslos. Nur Keheloth und die letzten Zombies stellten sich ihnen noch entgegen.

     Erlin war entsetzt. Sie und Rhoderick sahen durch den armdicken Riss in der Mauer, wie die vermeintlich toten Könige Keheloth besiegten.
„Das, das kann nicht sein. Es ist eine Illusion“, Tränen schossen aus Erlins blauen Augen.
„Ich habe das nicht gesehen. Sie können doch nicht…“ Ihre Worte gingen in ein abgehacktes Schluchzen über.
Rhoderick schob stoisch einen weiteren von Erlins Bolzen in seine Armbrust und tötete einen Angreifer. Jetzt war eigentlich die Zeit des Wechsels gekommen. Sie standen ganz alleine auf dem bröckeligen Turm. Die Treppe unter ihnen lag als Geröllhaufen am Boden. Die Skelettschützen über ihnen hatten die Angreifer zu Staub zerblasen.
Warum drehte er sich nicht endlich um und erschoss die schluchzende Göre und wechselte damit wieder einmal im richtigen Augenblick die Seiten.
Rhoderick hielt inne. Erlin rannte nach oben. Er legte einen Bolzen in seine Armbrust und folgte ihr. Sie wollte über die Zinnen klettern und sich nach unten stürzen. Unter ihren Fingern lösten sich die Mauern auf. Der größte Teil der Zinne kippte langsam nach außen und fiel nach unten.
„Nein! Nein!“, weinte sie wieder und wieder.
Gleich würde sie sich in die Tiefe stürzen. Einerseits war er erleichtert, dass er die Tat nicht selbst ausführen musste, andererseits tat sie ihm leid. Er beobachtete mit geladener Armbrust, wie Erlin auf die wackeligen Steine zu steigen versuchte, ausrutschte und nach innen weg kippte. 

 
     „Nimm Erlin. Du wirst sie in Sicherheit bringen.“
Rhoderick hatte  Daria nicht kommen sehen. Die Schwarzelfenkönigin sah doppelt so alt aus wie am Tag zuvor. Tiefe Falten hatten sich in ihr Gesicht gegraben. Tote Blutegel fielen aus den breiten Ärmeln ihrer schwarzen Robe.  
„Echelon, dieser Bastard! Er hat das Gleichgewicht nie begriffen. Glaubt, er könnte das Schicksal betrügen. Ich werde ihm sein falsches Herz herausreißen!“
Rhoderick senkte seine Armbrust. Erlin hatte sich umgedreht und lief in die Arme ihrer Mutter. Weinend vergrub sie ihren Kopf an Darias Bauch.
Daria umarmte sie. „Sei tapfer mein Kind. Ich werde in deinen Gedanken immer bei dir sein.“
Erlin klammerte sich an ihre Mutter. Daria stieß das Mädchen zurück, worauf hin Erlin noch heftiger weinte. Dann nahm sie ein blaues Amulett an einer goldenen Kette und legte es Erlin um den Hals.
„Das wird dich beschützen. Übe fleißig, was ich dir gelernt habe und wenn du alt genug bist, wirst du wissen, was zu tun ist.“
„Rhoderick. Hör mir gut zu und vergiss nichts: Du musst Erlin zu den Menschen bringen. Was Echelon und  Liofar nicht wissen, ist folgendes: „Alle Elfen sind untereinander verbunden. Die Lebensmagie der Hochelfen ist nur eine andere Seite unserer Todesmagie. Das Gemeinsame ist die Fähigkeit, Leben zu verlängern. Auch mit den Grünelfen gibt es eine Verbindung. Sie lassen wachsen, wir lassen ver-gehen. Die Wurzel dieser Fähigkeit ist das Wissen um die Zukunft und die Fähigkeit, die Zeit zu verändern. Darum können sowohl Echelon als auch ich in die Zukunft sehen. Er hat etwas gesehen und falsch verstanden. Ohne Schwarzelfen können sie ihnen nicht widerstehen. “

     Erlin schrie auf, stürzte auf ihre Mutter zu: „Mama, komm mit. Du darfst nicht sterben. Mama, ich habe das nicht gesehen. Warum passiert denn das. Das kann nicht wahr sein. Nein, nein.“

     Daria packte ihre Tochter grob an den Schultern. Auch ihr schossen Tränen über die Wangen.
„Niemand lebt ewig. Auch ich nicht“, flüsterte sie. „Sieh dir die Menschen an. Sie werden keine hundert Jahre alt und ich habe hundertachtzehntausend Jahre gelebt. Ich bin müde. Ich habe alles gesehen. Geh mit Rhoderick und sei tapfer. Dann kann ich in Frieden sterben.“
„Nein, bleib!“, kreischte Erlin.
Daria schob das weinende Kind zu Rhoderick. Er blickte verlegen zu Boden, um ihr tränenüberströmtes Gesicht nicht zu sehen.
Kalt sagte sie: „Du wirst durch einen Tunnel in die Unterwelt gehen. Schau immer nach vorne auf das blaue Licht. Schau nicht nach rechts und nach links und denk nicht einmal daran, dich umzudrehen, egal was passiert. Am Ende wirst du bei den Menschen sein. Verstecke sie vor den Grünelfen. Sie muss überleben. Auch für euch Men-schen.“
Ein stetiger Tränenstrom rann über ihre Wangen. Sie drehte sich abrupt um, machte eine kreisende Handbewegung. Nichts passierte. Eine ganze Schar von verdorrten Blut-egeln fiel aus ihren Ärmeln. Rhoderick sah zwei runde Nar-ben auf ihren Wangen. Ein Ausdruck von Verzweiflung huschte kurz über das Gesicht der Königin.
„Dann eben meins“, sagte sie, ritzte sich mit einem Bronzemesser den Unterarm auf, bewegte ihre Hand im Kreis und ein kleines Portal entstand, dessen rote Ränder eine tiefe Schwärze umfassten. Rhoderick packte Erlin, die wild strampelte.
„Du darfst nicht hier bleiben!“, heulte sie und versuchte zu ihrer Mutter zu laufen.
„Beeil dich!“, befahl Daria.

     Rhoderick musste sich bücken, um durch das Tor zu steigen. Die zappelnde Erlin machte es ihm nicht einfach. Weit vorne sah er das blaue Licht. Er war im Tunnel. Eisige Kälte schlug ihm entgegen. Vor seinem Mund bildeten sich Kondenswolken. Erlin kreischte noch immer. Immerhin hatte sie zu zappeln aufgehört. Der Boden fühlte sich schwammig an, als ob er lebte.
Rhoderick starrte angestrengt auf den kleinen Lichtpunkt. Er hörte Stimmen. Von Menschen und von Elfen.
Sie drohten, schmeichelten, flehten, sie anzusehen, doch Rhoderick dachte nur daran, dass er dieses Kind retten würde.

     Daria tauchte unter den Angreifern auf, wie ein Falke im Hühnergarten. Niemand hatte gesehen, woher sie kam und dann stand sie mitten unter ihnen und brachte den Tod. Aus ihren Armen rann Blut, welches sich in tödliche Blitze verwandelte. Die wenigen versprengten Schwarzelfen fass-ten wieder Mut, doch gegen die erdrückende Übermacht konnten sie nicht lange bestehen und dann war Daria ganz alleine. Sie erzeugte noch einmal einen Tunnel und gelangte wieder auf den Turm, von dem ihre Tochter geflohen war. Sie blickte auf das Portal. Jeder Schritt im Totenreich zählte für tausend in der Oberwelt. Nur noch wenige Schritte und Erlin würde in Sicherheit sein.
„Ich muss wieder nach unten. Echelon töten“, dachte sie, doch ihre Arme gehorchten nicht mehr. „Alles verbraucht.“ Der Turm wackelte. Sie erinnerte sich an die Vision ihres Todes. Sie war sehr alt gewesen, und schwach. Dann war sie von einem hohen Turm gestürzt. Einem Turm, von dem sie gedacht hatte, er könnte nie einstürzen. Mit einem bitteren Lächeln stellte sie fest, dass all die Zeit, die sie mit ihren Zaubern aufgehalten hatte, jetzt schlagartig zurückgekehrt war. Und sie würde es nicht verhindern können. Noch einmal blickte sie auf den Menschen mit ihrer Tochter. Er hatte sich nicht umgedreht.

     Darias harte Züge entspannten sich zu einem Lächeln. Das Schicksal ließ sich nicht betrügen. Von niemandem. Schlagartig verschwand das rot umrandete Tor. Der Turm neigte sich anfangs langsam und begann dann immer schneller umzufallen. Weit weg fielen Erlin und Rhoderick zurück in die Welt der Lebenden. 

 

 
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